Unsere disziplinäre Position: die textwissenschaftliche Synergie der Forschung und Lehre
Das wichtigste Mittel und zugleich eines der wichtigsten Forschungsobjekte in der Literatur- und Geschichtswissenschaft ist – seit der Entstehung dieser Disziplinen – der Text. Dementsprechend wird in beiden Wissenschaftszweigen von Anbeginn der Deutung und Veröffentlichung von Texten als Quellen und parallel dazu der Ermittlung und Lösung ihrer textologischen Probleme und der Problematik der kritischen Textausgaben besondere Aufmerksamkeit gewidmet.
Obwohl die Praxis und Theorie der Textausgabe, die Textologie, auf eine Vergangenheit von mehreren Jahrtausenden zurückblicken kann und immense Mengen von Ergebnissen produziert hat, steckt die eigentliche Textwissenschaft auch weltweit bis zum heutigen Tage in den Kinderschuhen, und in Ungarn gab es für die komplexe Erforschung der Entstehung, Überlieferung, Ermittlung, Veröffentlichung und Verwendung von Texten zu wissenschaftlichen Zwecken kaum Ansätze. Die Teilaufgaben werden von einander isoliert oder in gelegentlichen Kooperationen wahrgenommen, die Theorie wird als Nebenprodukt der Praxis angesehen. Die Bildung verläuft traditionell zerstreut und sporadisch, nicht institutionell und ist meistens an eine konkrete Textausgabe gebunden. Daraus folgt, dass auf einen zu einer Verallgemeinerung der Ergebnisse und Erfahrungen notwendigen Überblick keine Hoffnung besteht und darauf kein Anspruch erhoben werden kann. Sogar bei den kritischen Textausgaben werden die theoretischen Grundlagen der Veröffentlichung jedes Mal von Anfang an abgelegt und die Methoden einem zufälligen Muster folgend ausgearbeitet. Unter solchen Umständen ist das Niveau der Ausgaben selbstverständlich wechselhaft. Es entwickelte sich auch kein Einklang zwischen Erforschungen und Theorie der Texte als Quellen und der in den letzten Jahrzenten in enormem Tempo voranschreitenden Semiotik. Zu dieser äußeren und inneren Separation trägt die Trennung von der Informatik bei, die für die Literatur- und geschichtswissenschaftliche Nutzung der Quellentexte auf theoretischer Ebene neue Annäherungsmethoden, in der Praxis allerdings neue Möglichkeiten eröffnen könnte. Inzwischen tauchen immer wieder Ansprüche – besonders der jüngeren Generationen – auf, sich den Quellentexten als Wissenschaftsobjekten von mehreren Seiten her anzunähern, sie mit moderneren Mitteln zu untersuchen, die Textologie in einem breiteren Rahmen zu behandeln.
Diese Trennung und Isoliertheit kann durch die Ausbildung von Fachleuten aufgehoben werden, die über sämtliche für die komplexe Textuntersuchung wichtigen theoretischen und praktischen Mittel verfügen, die den physischen, gesellschaftlichen und historischen Raum, in dem die Texte entstanden, bestehen und wirken, überschauen können, die Annäherungsmethoden an die Texte, sowie die Techniken zu ihrer Behandlung kennen, und die Art und Weise, wie die Ergebnisse der Textuntersuchung in das universelle Wissen eingebettet werden können, klar sehen. Vor den in dieser Weise ausgebildeten Fachleuten eröffnet sich der Weg für eine die Theorie und Praxis umfassende Pflege jeweiliger traditionell behandelter textbezogener Teilgebiete auf einem hohen Niveau. Demzufolge erreicht das Praktikum der Textologie ein wesentlich höheres Niveau als heute üblich, andererseits wird es jedoch möglich, sich den in der Grundausbildung angeeigneten Kenntnissen von einem besonderen Gesichtspunkt her anzunähern, die inneren und äußeren Zusammenhänge der Literaturwissenschaft, die von einem anderen Blickwinkel her nicht beobachtbar sind, zu erkennen und aufzudecken. Die Bildung mit textologischem Schwerpunkt trägt also sinnvoll zur niveauvollen und neue Ergebnisse hervorbringenden Pflege der Literaturwissenschaft und ihrer verwandten Wissenschaften (u.a. der Kulturgeschichte, Wissenschaftsgeschichte) bei.
Diese Konzeption erfreut sich auch einer breiten Unterstützung in der Gesellschaft. In den letzten Jahrzehnten – nach zirka hundertjähriger Pause – entstand das Bedürfnis nach niveauvollen Ausgaben historischer und literarischer Texte. Hierbei spielen mehrere Gründe zusammen. Einerseits handelt es sich um eine natürliche Reaktion auf die lange ideologieorientierte Geistigkeit des 20. Jahrhunderts, die sich mehr um die Deutung der Texte kümmerte als um ihre getreue Veröffentlichung. Gleichzeitig sind die Ergebnisse des 19. und 20. Jahrhunderts (imposante Quellenausgabe-Serien usw.) mittlerweile veraltet. Die Anzahl der zu veröffentlichenden Texte ist indessen stark gestiegen, weil viele, früher isolierte, in- und ausländische Institutionen, die Dokumente bewahrten, zugänglich wurden. Desweiteren eröffnete sich vor den ungarischen Fachleuten die Möglichkeit, an internationale Projekte anzuknüpfen, Texte im Fokus internationalen Interesses zu publizieren. All dies führte zu einem wachsenden Interesse an Textausgaben und zur Aufwertung der textologischen Tätigkeit, und zwar in einem solchen Maße, dass sie heute nicht mehr lediglich als wichtige Aufgabe einzelner Institute angesehen wird, sondern auch ausschließlich darauf spezialisierte Geschäftsunternehmen als Verlage gegründet wurden (was wiederum auf das gesellschaftliche Bedürfnis hindeutet). 1990 wurde zum ersten Mal in der Geschichte der wissenschaftlichen Klassifizierung eine kritische Ausgabe anerkannt. Parallel dazu greift aber auf der anderen Seite immer mehr der Dilettantismus um sich.
Es stellte sich also der Anspruch auf die Gründung eines einheimischen promovierenden Zentrums für Textwissenschaft, das auf theoretischer Ebene an die ungarischen und ausländischen Projekte anknüpft, und zugleich eine postgraduale Lehranstalt ist, die Fachleute ausbildet, welche die praktische Arbeit auf theoretischen Grundlagen ausüben.
Die Bestimmung und Lehre der Normen bezüglich der Pflege der Textwissenschaft, Textologie und Philologie, der gültigen Formen der reflektierten Textbestimmung, der Ausarbeitung und des Gebrauchs der textographischen Prinzipien, der stemmatographischen Fragen der Textetymologie, und bezüglich der Haupttexte, des Apparates, der Notizen und Kommentare der kritischen Textausgabe, Quellenausgabe, der genetischen Herausgabe und der elektronischen (digitalen) Herausgabe gilt als nationale humanwissenschaftliche Grundfrage, und ist die Voraussetzung für die Kooperationen mit internationalen textwissenschaftlichen Forschungsstätten und philologischen Werkstätten. Die texttreuen und anspruchsvollen Lebenswerkausgaben der ungarischen Klassiker, sowie die chronologischen Sammlungen und Datenbasen der ungarischen literarischen Texte dienen grundsätzlich der Pflege und Überlieferung des nationalen Kulturerbes – die Ausbildung eines professionellen Nachwuchses im Bereich Textherausgabe ist hierbei von strategischer Bedeutung.
Der Anspruch auf die Lehre der Textwissenschaft geht glücklicherweise mit dem neuen strukturellen Rahmen des ungarischen Bildungssystems für Nachwuchswissenschaftler einher, Textwissenschaft kann nämlich nur postgradual studiert werden. Den Kurs können diejenigen Studierenden erfolgreich absolvieren, die über eine Gesamtübersicht über die Kulturwerte der ungarischen Vergangenheit und entsprechende Fremdsprachenkenntnisse verfügen, die wenigsten während des Studiums schon Quellentexte behandelt haben und einen forschungsorientierten beruflichen Werdegang anstreben.
Das Graduiertenkolleg für Literaturwissenschaft der Universität Miskolc ist für das postgraduale Studium der Textwissenschaft und Textologie besonders geeignet. Das Graduiertenprogramm für Textwissenschaft – mit einer Vergangenheit von anderthalb Jahrzehnten – findet in Ungarn allein in dieser Lehranstalt statt und wird von besonders gut ausgebildeten Fachleuten betreut.
- Das Graduiertenprogramm Textwissenschaft (heute: Klassische Textwissenschaft) wurde 1996 noch von Prof. Dr. Kulcsár Péter ins Leben gerufen, und steht seit 2004 unter der Leitung von Prof. Dr. Kecskeméti Gábor, der zugleich der Vorsitzende des Arbeitskomitees für Textologie der 1. Klasse der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ist. Die Studierenden des Programms untersuchen in erster Linie Texte aus der frühen Neuzeit und dem 18. und 19. Jahrhundert.
- Das Programm, das die Literatur des 20. Jahrhunderts behandelt, wurde Prof. Dr. Kabdebó Lóránt initiiert und er leitet es auch heute. Im Rahmen dieses Programms veröffentlichte er in Zusammenarbeit mit seinen Studenten in einer anspruchsvollen Textausgabe das dichterische Lebenswerk des in Miskolc geborenen Szabó Lőrinc, so wie auch seine zahlreichen weiteren Schriften, Übersetzungen, Notizen, Tagebucheintragungen, Briefe, Schriften aus seiner Umgebung und die nötigen Hilfsbücher zu deren Studium (Bibliographie, Bibliotheksverzeichnis). Zur Durchführung dieser Arbeiten funktioniert an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Miskolc auch die Szabó Lőrinc Forschungswerkstatt, eine fachliche Werkstatt unter der Aufsicht des Büros für Unterstützte Forschungsstätten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA).
- Unser drittes Programm unter der Leitung von Dr. Ambrus Gergely konzentriert sich bei der Textuntersuchung auf die Fragen der Semiotik, der Semantik, der Hermeneutik und der Sprachphilosophie (zum Teil mit der Philosophie des Geistes), und ergänzt die orthodoxe theoretische Denkweise um den semantischen, phänomenologischen und hermeneutischen Hintergrund der zeitgemäßen theoretischen Orientierung.
Diese drei Programme tragen gemeinsam zu einer postgradualen Bildung bei, in der die Pflege der Textwissenschaft nach historischen Prinzipien, bei adäquatem sprach- und texttheoretischem Hintergrund und Bezug, das 16. bis 20. Jahrhundert umfasst.
Den Lehrkörper des Graduiertenkollegs bilden vor allem die Dozenten am Institut für Ungarische Sprach- und Literaturwissenschaft (Institutsleiter: Prof. Dr. Kecskeméti Gábor) der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Miskolc. An textkritischen Ausgaben arbeiten im Moment die folgenden Dozenten: Dr. Gyapay László (theoretische Schriften und Kritiken von Kölcsey Ferenc), Dr. Porkoláb Tibor (die Oden von Virág Benedek), Dr. Tasi Réka (die Gedichte von Dayka Gábor). Bei niveauvollen kritischen Ausgabenserien redigierte Prof. Dr. Kecskeméti Gábor und Prof. Dr. Kilián István bedeutende Texte (Alte Ungarische Prosaschriften und Alte Ungarische Dramen). Prof. Dr. Heltai János ist der leitende Mitarbeiter der auch international maßgebenden ungarischen retrospektiven Nationalbibliographie (Alte Ungarische Druckwerke). Prof. Dr. Kecskeméti Gábor ist Mitarbeiter bei der Zusammenstellung einer internationalen textwissenschaftlichen Datensammlung aus der Zeit des Humanismus, in Kooperation mit dem Forschungsinstitut für Textwissenschaft in Paris (Institut de Recherche et d’Histoire des Textes, Centre Félix Grat) des Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Unter der Redigierung von Dr. Gyapay László erschien das ungarische Kapitel der mehrsprachigen Anthologie European Romanticism. Prof. Dr. Kilián István und Dr. Porkoláb Tibor redigierten bedeutende ortshistorische Schriften über Miskolc und weitere regionale kulturelle Quellen, letztere unter Einbeziehung von zahlreichen studentischen Arbeitsgruppen. Unsere Sprachwissenschaftler sichern durch ihre philologische Arbeit den sprach- und orthographiehistorischen, sowie den stiltheoretischen Hintergrund (Prof. Dr. A. Molnár Ferenc, Prof. Dr. Kemény Gábor). Der sprachlichen und fachlichen Kompetenz unserer Kollegen in der Lehre der Geschichte der Weltliteratur sind zahlreiche adäquate Erstübersetzungen aus dem klassischen Latein und dem neuzeitlichen Deutschen, Polnischen und Russischen ins Ungarische zu verdanken (Dr. Darab Ágnes, Dr. Kőrizs Imre, Dr. Kiss Noémi, Dr. Kertész Noémi).
An der Arbeit des Graduiertenkollegs nehmen auch mehrere Dozenten des Instituts für Geschichtswissenschaft (Institutsleiter: Dr. Gyulai Éva) Teil. Sie werden vor allem in die Lehre der historiographischen, paleographischen und archivbezogenen Fächer einbezogen und führen mit den Studierenden diesbezüglich Konsultationen (Dr. Gyulai Éva, Dr. Fazekas Csaba, Dr. Horváth Zita, Dr. Nagy Gábor, Dr. Tóth Péter).
In den Programmen Semantik und Hermeneutik wirken, neben den Kollegen der Literaturtheorie, die Dozenten des Instituts für Philosophie (Institutsleiter: Dr. Gáspár Csaba László) mit.
Im Curriculum aller drei Programme gewährleisten gemeinsame, allgemeine Pflichtfächer (Wissenschaftliches Schreiben, Kenntnisse im Verlagswesen, Textwissenschaft 1-2, Literarische Hermeneutik 1-2) den textwissenschaftlich-textologischen Schwerpunkt und die Konsistenz der Bildung.